Freitag, 4. März 2011

In einer dunklen Welt

von Stephan Hermlin

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Ich lernte Hermann R. im Sommer des Jahres 1933 kennen. Der Mann, der uns zusammengebracht hatte, war gleich gegangen.  Es war noch ganz hell draußen, durch das offene Fenster kam ein Wind.  Wir hatten uns, jeder mit seinem Bierglas, an einen Tisch unter dem Radioapparat mit seiner Marschmusik gesetzt.  In der kleinen Friedenauer Kneipe gab es zu dieser frühen Abendstunde keine weiteren Gäste.  .... Unbekannte Leute hatten Hermann R. zu mir geschickt und zu der illegalen Gruppe, die ich leitete. 
Wir trafen uns von da an öfter, eigentlich jede Woche.  Manchmal verschwand Hermann für einige Zeit. Ungeduldig wartete ich auf die Postkarte mit dem vereinbarten Text, aus dem ich herauslesen konnte, wann und wo er mich sprechen wollte—am Zoo, in der Potsdamer Strasse oder am Alexanderplatz.  Ein-, zweimal erwähnte er im Gespräch Amsterdam, Paris, Städte, die ich damals nicht kannte und deren Namen mir phantastisch ins Ohr klangen.  Ich stellte niemals Fragen, die seine Person, seine Tätigkeit, seine Reisen betrafen.  Ich bewunderte Hermann R., der nur ein paar Jahre älter und dabei soviel reifer, kühler und wissender war als ich.
Meist sahen wir uns nur wenige Minuten. Die Konspiration hat ihre Regeln, und der Mann hatte selten Zeit.  „Also, mach’s gut...“, sagte er, kniff seine dunklen Augen spaßhaft zusammen und war schon auf seinem Rad auf und davon.  Manchmal dauerte unsere Begegnung nur einen Augenblick, wenn Hermann mir Material für meine Gruppe brachte, ein paar Flugblätter oder andere Schriften, die als Reclam-Hefte getarnt waren. Einmal war ein neues, im Ausland erschienenes Buch von Heinrich Mann dabei.  Wir trafen uns dann, auf die Minute genau, in einem Schöneberger Park oder auf einer Bank im Tiergarten.  Jeder von uns hatte sein Rad und eine Mappe bei sich.  Meine war leer.  Wir wechselten unauffällig die Mappen und gingen auseinander.
Manchmal hatte Hermann Zeit.  Dann machten wir unendliche Spaziergänge durch das nächtliche Berlin, die Räder neben uns herschiebend, von Steglitz bis zum Kürfürstendamm und von da wieder die Charlottenburger Chaussee entlang bis zum Lustgarten und noch weiter in den Berliner Norden hinauf.  Wir redeten und redeten.  Es störte mich nicht, dass ich von Hermann nichts wusste, nichts von seiner Vergangeheit, nicht, wo er wohnte, dass ich nicht einmal wusste, ob der Name, mit dem ich ihn anredete, sein wirklicher Name war.  Am meisten sprachen wir natürlich über Politik, von den Kriegsvorbereitungen der Nazis, den Februarkämpfen in Paris und Wien, den Verhaftungen, von der unvermeidlich kommenden Revolution.  Wir diskutierten über Bücher, Filme, Konzerte, Ausstellungen, Boxkämpfe.
...
Ich erfuhr von Hermanns Verhaftung im Spätherbst 1935.  Keiner wusste etwas von den Umständen der Verhaftung.  Offenbar ein Spitzel.  Man wusste nicht genau, wo Hermann saß; wahrscheinlich in der Prinz-Albrecht-Straße.  Es gab übrigens in unserem Kreis keine weiteren Verhaftungen.  Hermann hatte keine Namen genannt, soviel war sicher.  Wir hatten es nichts anders erwartet.
Kurze Zeit nach dem Ende des Krieges und meiner Rückkehr besuchte ich im zerschlagenen Berlin eine Ausstellung von Dokumenten und Bildern aus dem deutschen Widerstandskampf.  An einer Wand sah ich plötzlich Hermann R.s Gesicht.  Eine kurze Notiz unter dem Bild besagte, dass Hermann R. 1940 im Steinbruch von Buchenwald erschossen worden war.
...
...ein paar Jahre später [wollte] ich ein kleines Buch über Leute meiner Generation schreiben, die gegen Hitler gekämpft hatten und in diesem Kampf untergegangen waren.
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Ich wollte herausfinden, ob  noch einige Hermanns Angehörigen erreichbar seien....seine Schwester,..., befand sich im Ausland; sie war erst vor zwei Jahren als Frau eines britischen Offiziers aus Berlin nach London verzogen.  Sie war jetzt eine Mrs. Young.
...
“Ich möchte, sagte ich. „sehr gern mit Ihnen über Hermann reden.“
„Mein Gott“, sagte Mrs. Young, „wie lange das her ist.  Hermann, du lieber Gott. Mein großer Bruder, der sich über uns auch nicht gerade den Kopf zerbrach.  Er wollte lieber die Welt verändern.  Und dann geschah das Unglück, das man ja hatte voraussehen können.“
„Vielleicht könnten wir uns dann sehen, Mrs. Young“,  sagte ich jetzt. „Ich wäre froh, wenn ich einmal zu Ihnen kommen dürfte.“
„Warum diese Eile? Warum überhaupt all diese Dinge wieder ans Tageslicht bringen?  Die Toten soll man ruhen lassen.  Wir haben damals alle genug durchgemacht.“
...
„Ich komme zu Ihnen, wenn Sie wollen“.
...
„Hören Sie, bei mir zu Hause geht es nicht. Treffen wir uns lieber in der Stadt.  Heute abend um acht“.
Es war beinahe halb neun als der Kellner an meinem Tisch trat und sagte, er irre sich wohl nicht, ich müsse es gewiss sein, den eine Dame am Telefon erwartete.
„Es tut mir wirklich leid“, sagte die Stimme.  „Ich habe Sympathie für Sie, obwohl Sie einer von den Leuten sind, die ständig vergangene Dinge aufrühren und die Welt nicht in Ruhe lassen“.
„Welche Welt meinen Sie?“ fragte ich. „Vielleicht wäre es in der Welt ein wenig ruhiger und vernünftiger zugegangen, wenn Leute wie Hermann etwas zu sagen gehabt hätten. Aber man hat ihn umgebracht.“
„Es ist mein letztes Wort“, sagte die Stimme.  „Übrigens, noch eins....Eigentlich möchte ich es Ihnen gar nicht sagen.  Aber vielleicht ist es besser, wenn Sie es wissen: Als er verhaftet war, hat Hermann nicht mehr daran geglaubt.“
„Woran hat er nicht mehr geglaubt?“ fragte ich und fühlte eine Kälte in mir.
„Er hat nicht mehr daran geglaubt“, sagte die Stimme.  „An seine Ideen, an Ihre Ideen.  Er hat eben an das Ganze nicht mehr geglaubt.  Er glaubte nicht mehr, dass es sich gelohnt hatte.  Ich habe ihn in der Haft noch einmal gesehen, ehe sie ihn nach Buchenwald brachten.  Er hat es mir selber gesagt.“
„Sie lügen“, sagte ich. „Jetzt haben Sie ihn eben zum zweitenmal umgebracht.“
„Werden Sie nicht pathetisch“, sagte die Stimme.  „Gute Nacht!“
 Es klickte in der Leitung.

Ich bestellte noch einen Campari. Als der Kellner ihn brachte, sagte er: „Ich glaube, die Dame möchte Sie noch einmal sprechen.“ Ich stürzte zurück in die Kabine.
„Sie sind ein Idealist und konnen nicht begreifen, dass normale Leute ihr Leben so einzurichten suchen, wie es die Zeit verlangt.  Seien Sie mir nicht böse.“
„Ich sagte vorhin“, erwiderte ich,“Sie hätten ihn zum zweitenmal umgebracht.  Ich habe wohl etwas übertrieben. Aber Sie haben ihn damals angezeigt.“
Eine stumpfe, dumpfe Ruhe breitete sich zwischen uns.  Dann sagte Mrs. Young: „Ja.“ Eine Pause trat ein.  „Was wissen Sie denn“ sagte sie, „Gar nichts wissen Sie mit Ihrem blödsinnigen Idealismus.  Ich war sechs Jahre jünger als Hermann, aber alt genug, um begreifen zu können, was er trieb und wohin er es trieb.  Ich wollte nicht seinen Tod, wo denken Sie hin, er war doch mein Bruder. Er sollte nur einen Denkzettel kriegen und lernen, dass man auf seine Familie Rücksicht zu nehmen hat. Man sprach damals von Schutzhaft, die Gefangenen sollten in sich gehen, hieß es, sich in eine neue Gemeinschaft einfügen.  Ich wollte nicht seinetwegen vom Studium ausgeschlossen werden, ich wollte mir nicht mein Leben verderben lassen.  Meine Mutter hat bis zu ihrem Tode nichts davon gewusst.  Und er hat auch nicht geahnt....“